Wenn es auf der Welt ein unantastbares Eigentum gibt, etwas, das ein Mensch sein Eigen nennen kann, ist es dann nicht das, was der Mensch zwischen Himmel und Erde erschafft, und was allein in seiner Intelligenz wurzelt, und in den Herzen aller Menschen erblüht?
Balzac, Brief an die französischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts (Revue de Paris, 1834)
Um kreativ sein zu können, muss man erst einmal etwas zu essen haben.
Beaumarchais
Auszug aus der Präambel zur Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft („Urheberrechtsrichtlinie“):
(9) Jede Harmonisierung des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte muss von einem hohen Schutzniveau ausgehen, da diese Rechte für das geistige Schaffen wesentlich sind. Ihr Schutz trägt dazu bei, die Erhaltung und Entwicklung kreativer Tätigkeit im Interesse der Urheber, ausübenden Künstler, Hersteller, Verbraucher, von Kultur und Wirtschaft sowie der breiten Öffentlichkeit sicherzustellen. Das geistige Eigentum ist daher als Bestandteil des Eigentums anerkannt worden.
(10) Wenn Urheber und ausübende Künstler weiter schöpferisch und künstlerisch tätig sein sollen, müssen sie für die Nutzung ihrer Werke eine angemessene Vergütung erhalten, was ebenso für die Produzenten gilt, damit diese die Werke finanzieren können. Um Produkte wie Tonträger, Filme oder Multimediaprodukte herstellen und Dienstleistungen, z. B. Dienste auf Abruf, anbieten zu können, sind beträchtliche Investitionen erforderlich. Nur wenn die Rechte des geistigen Eigentums angemessen geschützt werden, kann eine angemessene Vergütung der Rechtsinhaber gewährleistet und ein zufrieden stellender Ertrag dieser Investitionen sichergestellt werden.
(11) Eine rigorose und wirksame Regelung zum Schutz der Urheberrechte und verwandten Schutzrechte ist eines der wichtigsten Instrumente, um die notwendigen Mittel für das kulturelle Schaffen in Europa zu garantieren und die Unabhängigkeit und Würde der Urheber und ausübenden Künstler zu wahren.
(12) Ein angemessener Schutz von urheberrechtlich geschützten Werken und sonstigen Schutzgegenständen ist auch kulturell gesehen von großer Bedeutung. Nach Artikel 151 des Vertrags hat die Gemeinschaft bei ihrer Tätigkeit den kulturellen Aspekten Rechnung zu tragen.
Schwerlich lässt sich das Urheberrecht leidenschaftlicher verteidigen, als das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union es in dieser Präambel tun.
Doch heute, nur vierzehn Jahre später, ist es für die Europäische Kommission unter Vorsitz von Jean-Claude Juncker offenbar oberstes Ziel, genau diese Prinzipien über Bord zu werfen: das fragile Gleichgewicht auszuhebeln, das den Schutz der europäischen Kultur gewährt, und exakt jene Imperative zu ignorieren, welche die Vielfalt kreativen Schaffens und die Meinungsfreiheit erst gewährleisten.
Unter dem vereinten paradoxen Einfluss transatlantischer multinationaler Konzerne auf der einen Seite, dem libertärer Gruppierungen wie der „Piraten“ auf der anderen, wird das Urheberrecht heute als obsolet und reaktionär hingestellt, als ein Handicap für den freien Zugang zu Bildung und Wissen und als undemokratisch.
So sind für Andrus Ansip, den Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, Kommissar für den digitalen Binnenmarkt, die Verteidiger des Urheberrechts lediglich bestrebt, „die persönlichen Interessen zu verteidigen, die nur einigen wenigen nützen, die die Innovation bremsen und einem Neuanfang im Wege stehen.“ Ihm zufolge ist das Urheberrecht im digitalen Zeitalter fehl am Platz.
In den Augen von Julia Reda, Mitglied der deutschen Piratenpartei, die vom Europäischen Parlament zur Berichterstatterin für das Urheberrecht bestimmt wurde, unterscheiden sich die französischen Europaabgeordneten von ihren europäischen Kollegen „in ihrem Schulterschluss gegen jede Veränderung. Nicht nur, dass früher alles besser war, das Vergangene passe auch bestens in die Gegenwart ... und in die Zukunft.“ Und noch dazu prangert sie „die Vogel-Strauss-Politik“ der Verleger an, bezeichnet sie bisweilen gar als „Ausbeuter“.
Mit leichter Hand wischt Julia Reda, gerade mal achtundzwanzig Jahre alt, ein komplettes Regelwerk zum Schutz des Urheberrechts hinweg, das im 16. Jahrhundert in der Republik Venedig entstand und nicht unerheblich zum Glanz der italienischen Renaissance beitrug, 1710 dann in England, 1790 in den Vereinigten Staaten von Amerika bundesweit gesetzlich verankert wurde. In Frankreich schließlich war der Urheberschutz eine Begleiterscheinung der Aufklärung und wurde 1791 und 1793 von den Gesetzen der Französischen Revolution festgeschrieben. Er räumte mit den Privilegien auf, in deren Genuss ein Autor gelangen musste, um rechtmäßig von seinem Werk leben zu können.
Und so scheint es, als hätte man in Brüssel im Jahr 2015 ziemlich überstürzt beschlossen, dass die Tage des Urheberrechts gezählt seien, ohne die mindeste Studie zur Folgenabschätzung in Auftrag zu geben, und ohne jeden Antrag von Seiten eines der Mitgliedstaaten. Als hätte man eben mal so beschlossen, dass einer der leistungsstärksten Wirtschaftssektoren Europas, der über eine halbe Million Menschen Arbeit (*Anmerkung von Fairer Buchmarkt: in der Buchbranche; Europaweit sind es sieben Millionen Erwerbstätige in der gesamten Branche von Kulturschaffenden) gibt, bodenlos destabilisiert und die kulturelle Vielfalt ohne weiteres geopfert werden dürfe.
Gleichzeitig aber bauen dieselben Internetkonzerne, die mit Unterstützung Hunderter von Lobbyisten so hartnäckig auf diese Reform pochen, immer mehr Hemmnisse in den freien Fluss des geistigen Eigentums ein – etwa die mangelnde Interoperabilität zwischen dem iBook Store von Apple und dem Kindle E-Reader von Amazon –, ohne dass das die Kommission des Jean-Claude Juncker auch nur im mindesten anficht. Diese sieht die Blockaden im freien Fluss der Informationen nämlich dort, wo es keine gibt, und schaut weg, wo sie einem ins Auge springen.
Eine Reform ohne ökonomische Notwendigkeit
Den Argumenten zufolge, die von der Kommission Juncker geschwungen werden, und wie sie etwa Kommissar Ansip zum Ausdruck bringt, wäre die Reform des Urheberrechts unabwendbar im Blick auf die Umwälzungen, die die digitale Revolution mit sich bringt. Eine solche Prophezeiung beruht indes einzig und allein auf der Überzeugung jener, die sie aussprechen, und wird durch nichts, jedenfalls nicht durch Tatsachen, gestützt. Die französische Buchbranche (fünf Milliarden Euro Jahresumsatz und 80 000 Beschäftigte) ist seit mehreren Jahren stabil. Jeder Vergleich mit dem audiovisuellen Sektor und der Musikbranche, deren Geschäftsmodelle völlig über den Haufen geworfen sind, erscheint überzogen und eignet sich schwerlich dazu, Modifikationen in einer Branche zu rechtfertigen, deren Situation eine gänzlich andere ist.
Außerdem beträgt der Verkauf von E-Books in den Kategorien Sachbuch und Belletristik in ganz Kontinentaleuropa keine 5% des Gesamtumsatzes (2,9% in Frankreich im Jahr 2014). Warum also sollte es so dringend notwendig sein, ein Gesetz umzumodeln, ohne dass auch nur einer der Mitgliedstaaten dies als nötig erachtet? Eine solche Initiative zerrüttet lediglich ein voll funktionierendes Ökosystem, um einer rein fiktionalen, völlig hypothetischen Realität vorzugreifen. Diese Initiative erscheint umso befremdlicher, als sich sogar in den USA der Marktanteil des E-Books (im Jahr 2014) auf 21% eingependelt zu haben scheint. Nebenbei bemerkt, ist der Erfolg des E-Books in England und Amerika aufs engste mit dem Sterben der Buchhandlungen verbunden, eine Entwicklung, die sich in Kontinentaleuropa in der Form nicht beobachten lässt, und schon gar nicht in Frankreich.
Letztendlich sieht es so aus, als ob die Europäische Kommission jemanden, der sich bester Gesundheit erfreut, für krank erklärt, um ihm jene tödliche Arznei zu verordnen, an der er schließlich stirbt.
Die Anpassung an den Digitalen Wandel ist längst vollzogen
Längst hat das französische Verlagswesen ohne viel Aufhebens den digitalen Wandel vollzogen, ohne dass irgendjemand konkrete Mängel hätte aufzeigen können, abgesehen vom stereotypen, karikaturenhaften Diskurs über den Trend der Moderne hin zu einer Gratiskultur, die bestenfalls einer „Googleisierung“ der Kultur gleichkomme, schlimmstenfalls einer Renaissance des Mäzenatentums mit den zugehörigen Privilegien, und in jedem Fall einer massiven Verknappung des kulturellen Angebots.
Und dies ist der Status quo:
- Sämtliche Neuerscheinungen französischer Verlage sind heute auch als E-Books auf zahlreichen digitalen Plattformen erhältlich (und innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre werden es auch 90% der Backlist sein).
- Die Normverträge für Autoren wurden vor nicht allzu langer Zeit an die Gegebenheiten des digitalen Marktes angepasst (einvernehmlicher Abschluss eines Normvertrags zwischen Verlegern und Autoren im Jahr 2013).
- In manchen Bereichen wurden neue digitale Vertriebsplattformen etabliert (so bietet z.B. Iznéo digitalen Zugang zu 90% aller französischsprachigen Comics).
- Das elektronische Angebot für Nutzergruppen mit verschiedenen Behinderungen wird fortwährend ausgebaut. Mit Platon wurde ein Portal geschaffen, über das E-Book-Files auch Blinden oder Sehbehinderten zugänglich gemacht werden können. Dieses Portal wird in naher Zukunft auch anderen behinderten Nutzergruppen mit Teilleistungsschwächen (Legasthenikern etc.) zugute kommen, ebenso behinderten Menschen, die im Ausland leben.
- Es wurde massiv in hochwertige Internetportale im pädagogischen (KNE, CNS, Edulib) und universitären Bereich investiert (Elsevier, größter Verleger für Medizin und Wissenschaft weltweit; Internetportal CAIRN, das elektronischen Zugang zur Gesamtheit aller sozialwissenschaftlichen Zeitschriften bietet ...). Den hundert am wenigsten entwickelten Staaten wird kostenfreier Zugang zu naturwissenschaftlichen Portalen gewährt (Research4Life-Programm).
- Unter Federführung der Sofia wurde ReLIRE lanciert: ein Digitalisierungs- und Vertriebsprogramm für nicht mehr lieferbare, aber noch nicht gemeinfreie Titel.
- Desgleichen wurden Programme für die E-Book-Leihe (zu festgelegten Konditionen) in Bibliotheken implementiert; und so weiter und so fort.
Wie man sieht, leben Print- und digitale Verlage in harmonischer Koexistenz und tragen gemeinsam zur Strahlkraft Europas in der Welt bei (sechs der größten Verlage weltweit sind in Europa beheimatet), schaffen Arbeitsplätze, zahlen Steuern – ganz im Gegensatz zu den großen Internetkonzernen – und bekommen den technologischen Wandel auch ohne dieses Google-Amazon-Reformprojekt in den Griff, das da von der Europäischen Kommission gerade ausgebrütet wird.
Die Untergrabung der Demokratie
Die geplante Reform scheint nicht nur keinen wirtschaftlichen Nutzen zu versprechen, sie lässt auch bedenklich an demokratischer Transparenz zu wünschen übrig.
Interessanterweise hat kein einziger der 28 EU-Mitgliedstaaten von sich aus eine Korrektur der Richtlinie 2001 zum Urheberrecht verlangt.
Da hatte man EU-Kommissar Michel Barnier um die Erstellung eines Weißbuchs zum EU-Urheberrecht gebeten, und als abzusehen war, dass dessen Ergebnisse nicht in die erhoffte Richtung einer Verringerung des Urheberrechtsschutzes gingen, hat man es offensichtlich auf halber Strecke fallen lassen.
Damit nicht genug, wurde der dem Europäischen Parlament abverlangte Bericht, der das geplante Reformwerk der Kommission vorbereiten sollte, unter allen 751 Parlamentariern ausgerechnet der einzigen Vertreterin der deutschen Piratenpartei anvertraut. Mit anderen Worten, man hat den Fuchs damit beauftragt, im Hühnerstall aufzuräumen. Und Julia Redas Bericht, der im Januar 2015 vorgestellt wurde, beinhaltet derart extreme Vorschläge, dass die Kommission selbst dann noch vergleichsweise konziliant erscheinen dürfte, wenn sie den Internetgiganten den Schlüssel zur europäischen Kulturindustrie und zur Urhebervergütungsregelung in die Hand drückte.
Um dieser Reform nichtsdestotrotz ein demokratisches Mäntelchen umzuhängen, raffte die Kommission sich im März 2014 dazu auf, eine Internetbefragung durchzuführen, um die EU-Bürger (allerdings nur in englischer Sprache) zu ihrer Meinung zum Urheberrecht zu befragen. Doch die Befragung wurde ohne jedes wissenschaftliche methodische Rüstzeug durchgeführt, mit total gelenkten Fragen und vorgegebenen Antworten, ausgetüftelt von dem Urheberrecht feindlich gesonnenen Gruppierungen.
Diese Parodie einer demokratischen Befragung ohne jede wissenschaftliche Fundierung verdeutlicht schon an und für sich, dass es der von der Kommission anvisierten Reform an jeder seriösen Grundlage fehlt. Ihre Methoden haben mehr mit einer Reality Show gemein als mit einem Verfahren, wie es des größten demokratischen Gemeinwesens dieser Welt würdig ist.
Nachdem der demokratische Anstrich einmal aufgetragen war, um die Tatsache zu übertünchen, dass im Kreis der Mitgliedstaaten nicht der leiseste Ruf nach einer Reform erklang, fühlte die Europäische Kommission sich so frei, eine Gesetzesreform in die Wege zu leiten, die achtundzwanzig Länder zugleich betraf – sowie den Nerv der europäischen Zivilisation.
Dass die Kommission Juncker sich solcher Methoden bedient, könnte die leidenschaftlichsten Verfechter des europäischen Gedankens vom Glauben abfallen lassen. Zumal, wenn ihnen dann noch folgendes aufgeht:
- Dass demgegenüber die Petition Copyright for Freedom nicht die leiseste Berücksichtigung gefunden hat. (Mit knapp 8000 Unterschriften war sie zwar kaum repräsentativer als die von der EU-Kommission lancierte Umfrage, aber eben auch nicht weniger repräsentativ.)
- Dass eine vom Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (OHIM) im Juni 2013 in allen achtundzwanzig EU-Mitgliedstaaten durchgeführte Umfrage zu dem Ergebnis kommt, dass 96% aller Europäer den Schutz geistigen Eigentums für wichtig halten, weil eine angemessene Vergütung der Kulturschaffenden ihrem Innovationsgeist und ihrer Kreativität zu gute kommt.
- Dass die Kommission sich beharrlich weigert, jedwede Untersuchung zur Folgenabschätzung der angepeilten Reform öffentlich zu machen, als müsse auf Teufel komm raus vermieden werden, den EU-Bürgern die Augen zu öffnen, dass sie sich anschickt, der europäischen Kulturindustrie das Genick zu brechen.
- Dass es derweil nicht als nötig erachtet wurde, der Produktpiraterie den Kampf anzusagen, obwohl Maßnahmen zum Schutz der europäischen Industrie mindestens genauso dringlich, wenn nicht noch dringlicher sein dürften als das Durchwinken von Maßnahmen, die sie mit Sicherheit schwächen.
Diese Reform, die den Beifall der Lobbyisten von Google, Apple, Facebook und Amazon findet, alldieweil sie ihre sämtlichen Erwartungen erfüllt, wie sie beispielsweise in einem Dokument vom Januar 2015 mit dem Namen Das Urheberrechtsmanifest niedergelegt sind, ist somit ein pures Technokratenprodukt, ohne ökonomische Notwendigkeit, ohne demokratische Legitimation, das unweigerlich den Niedergang eines der wichtigsten europäischen Industriezweige nach sich zöge. Die einzigen Nutznießer wären internationale Konzerne, die sich nicht nur weigern, auf europäischem Boden Steuern zu zahlen, sondern darüber hinaus schon seit Jahren jede rechtliche Verantwortung von sich weisen, mit der Begründung, dass sie allein US-amerikanischem Gesetz unterstünden, so dass sie sich in einem nahezu straffreien Raum bewegen (zumal was die Haftung für von ihnen verbreitete Inhalte angeht). Das alles passt prächtig zur Erklärung, die Präsident Obama am 17. Februar 2015 abgab, bevor er jeden Versuch, reglementierend ins Internet einzugreifen, harsch zurückwies: „Das Internet hat uns gehört. Unsere Unternehmen haben es geschaffen, weiterentwickelt und perfektioniert in einer Art und Weise, mit der sie (= die Europäer) nicht mithalten können.“
Die UrheberVergütung wäre In Zukunft der Ausnahmezustand
Die erste Orientierung der EU-Kommission wurde im Mai vorgestellt.
Nach der Sommerpause 2015 soll das Referat Urheberrecht mit seinem Gesetzesentwurf an die Öffentlichkeit gehen, und noch vor Jahresende wird dann die Kommission ihr Konzept vorstellen. Die ersten Einblicke, die man bislang gewinnen kann, zeigen, dass eine Gesetzesreform erarbeitet wird, die das Urheberrecht grundlegend verändern wird.
Da das parlamentarische Procedere in der Zwischenzeit ausgerechnet durch den Reda-Bericht in Gang gesetzt wurde, konnten die Schritte im weiteren Verfahren dann auch nur in diesem Geist fortgeführt werden.
Soweit der Hintergrund, vor dem das Europäische Parlament am 9. Juli 2015 zur Genugtuung seiner Verfasserin den Reda-Bericht annahm – nachdem es dessen gröbste Auswüchse beschnitten hatte.
Ausgehend von einer Extremposition, gibt man sich mit einer noch immer riskanten Lösung zufrieden und ebnet der Kommission den Weg, die jedoch keineswegs verpflichtet ist, der Empfehlung des Parlaments zu folgen.
So wie es heute aussieht, scheint das Parlament dahin zu tendieren, im audiovisuellen Sektor einen gewissen Urheberrechtsschutz aufrechtzuerhalten, während die Buchbranche weiterhin ernsthaft bedroht ist.
A priori plant die Kommission keineswegs, das Prinzip der Vergütung der Urheber abschaffen zu wollen. Aber sie trägt sich mit dem Gedanken, bis zu einundzwanzig Schrankenregelungen einzuführen, die eine angemessene Vergütung nicht mitdenken. Tatsächlich sind diese angedachten Schranken derart umfassend und unkontrollierbar, dass das Prinzip einer Urhebervergütung am Ende ungefähr so realistisch wäre wie Teleportation.
Einige der angedachten Urheberrechtsschranken seien im Folgenden aufgeführt:
E-Book-Leihe und elektronischer Zugang zu Bibliotheksbeständen
Wenn dank einer neuen Schrankenregelung jeder, der in einer Bibliothek angemeldet ist, ohne zeitliches Limit oder zahlenmäßige Begrenzung der parallel dasselbe Buch lesenden Nutzer unbegrenzt Zugang zu den elektronischen Beständen erhält, warum sollte er dann überhaupt noch E-Books kaufen, geschweige denn die Printversion? Die Legalisierung von Piraterie würde hier exakt auf dasselbe hinauslaufen. Man blicke nur nach Dänemark. Dort hat die Einführung der elektronischen Leihe in den Bibliotheken den E-Book-Verkauf regelrecht abgewürgt und das Land gezwungen, dieses Experiment zu überdenken und zu veränderten Konditionen durchzuführen.
De facto bedarf es keiner neuen Schrankenregelung, um Bibliotheksbenutzern die Leihe von E-Books zu ermöglichen. Überall in Europa etablieren sich schrittweise Modelle für die elektronische Leihe, aber nach vertraglich festgeschriebenen Konditionen und in enger Abstimmung von Autoren, Verlegern, Bibliothekaren und den Kommunen.
In Frankreich haben sich die beteiligten Akteure auf eine Charta gemeinsamer Empfehlungen zum Angebot von E-Books in Bibliotheken geeinigt.
Das sogenannte PNB-System (Prêt Numérique en Bibliothèque), das seit 2014 erprobt wird, erlaubt Bibliotheken den Ankauf und Verleih von E-Books und wird von den Benutzern gut angenommen.
Innerhalb dieses Rahmens sollte die Leihe dennoch gewissen Beschränkungen unterliegen, um eine Balance zwischen den Interessen der Bibliotheken und ihren Benutzern zum einen, der Finanzierung kreativen Tuns sprich der Erneuerung der Buchbestände zum anderen, zu erzielen.
Auch sollte es einer Bibliothek nicht gestattet sein, ihren Nutzern extra muros den unbegrenzten Zugang zu den elektronischen Beständen zu erlauben – und das damit zu begründen, sie erfülle einen Dokumentationsauftrag im öffentlichen Interesse. Das wäre kaum anders, als würde man sämtlichen Forschern und Studierenden Frankreichs kostenlosen Zugang zu allen Bänden der Pléiade gewähren, ohne dass dabei die geringste Vergütung für die Autoren herausspränge.
Mit einem Federstrich von oben all die fein ausgehandelten Gleichgewichte und Kompromisse zu vernichten, was macht das für einen Sinn?
Text und Data-Mining (TDM)
Nutzer hätten die Möglichkeit, urheberrechtlich geschützte Werke kostenfrei aus großen Datenbanken zu kopieren, um anhand dieser Daten Forschung zu betreiben und per Datenextraktion neue Inhalte zu kreieren.
Wenn solche Datenbanken legal geplündert werden dürften, gäbe kein Verleger mehr Geld aus, um diese kostenintensiven Tools überhaupt noch zu erstellen. De facto gibt es nicht eine Erwerbstätigkeit auf der Welt, deren Erzeugnisse legal und ohne finanziellen Ausgleich zu privaten Zwecken enteignet werden dürfen.
Eine Urheberrechtsschranke in diesem Bereich ist komplett überflüssig, zumal die Verlage ihre Datenbanken lizensierten Nutzern ohnehin schon zur Verfügung stellen.
Das Ganze führte zu einem Wertverlust, der Akteuren wie Google in die Hände spielte. Denn sie verdienen ihr Geld nicht durch das bloße Angebot der Daten, die sie dann in riesigen Mengen gratis „einsaugen“ könnten, sondern aus der sekundären Monetarisierung der Inhalte durch Begleitwerbung. Es hieße letztlich, einer Handvoll Konzerne den machtvollen Zugriff auf das Wissen der Menschheit zu überlassen – was den erklärten Zielen der EU-Kommission diametral zuwiderliefe.
Was aber geschieht, wenn jene Konzerne sämtliche Konkurrenten ausschalten und eine Monopolstellung innehaben? Wie will man dann noch sicher gehen, dass der Zugang zu den angebotenen Inhalten tatsächlich kostenfrei bleibt?
Wir hätten eine in der Geschichte der Menschheit bislang nie dagewesene Situation: Drei oder vier in privater Hand befindliche Konzerne hätten die totale Kontrolle über das gesamte Wissen der Welt, unter dem Vorwand, es für alle kostenfrei zugänglich zu machen. Zumindest am Anfang. Doch auch das ist nur eine Milchmädchenrechnung. Denn der Konsument würde auf andere Weise zur Kasse gebeten. Ganz zu schweigen von den schier Orwellschen Gefahren, die es mit sich brächte, wenn so wenige den alleinigen Schlüssel zu so viel Wissen besäßen.
Aufgrund ihrer Weigerung, eine Studie zur Folgenabschätzung der geplanten Reform in Auftrag zu geben, dürfte die Kommission nun Mühe haben zu erklären, warum sie eine Revolution losgetreten hat, die ökonomisch absurd ist, gegen die Interessen der EU-Bürger verstößt und den kulturellen Ambitionen eines Europa, an die in der Präambel zur Urheberschutz-Richtlinie vom Mai 2001 mit Nachdruck erinnert wird, so gänzlich zuwiderläuft.
Mit anderen Worten: Während Sportschuhe Markenschutz ohne Ende genießen und Google nicht im Traum daran dächte, seine Algorithmen zum Wohl der Allgemeinheit publik zu machen, ist die geistige Schöpfung allem Anschein nach keinerlei Schutzes wert.
Bildungsschranke
Künftig wäre die freie elektronische Verbreitung digitaler Werkauszüge zu Unterrichtszwecken erlaubt, was de facto eine Lawine nicht vergüteter Kopien nach sich zöge – eine unlautere Konkurrenz zum verlegerischen Angebot.
Eine solche Ausnahme, die auf der Welle einer hochherzigen Rhetorik schwimmt, welche den universellen Zugang zu Wissen und Bildung beschwört, wäre in etwa so sinnvoll, als würde man die EDF, Frankreichs größten Stromerzeuger, nötigen, sämtliche Schulen gratis mit Strom zu beliefern.
Verlage und Autoren stünden einsam auf weiter Flur: Sie wären die einzigen, von denen erwartet würde, dass sie unentgeltlich Inhalte erstellen und zwangsläufig rote Zahlen schreiben.
Diese Schrankenregelung brächte den gesamten Schulbuchmarkt zum Erliegen, und das zu einer Zeit, da die Schulbuchverlage gerade ungeheure Summen in die Digitalisierung investiert haben (seit 2009 ist das Angebot zu 100% digital) und aller Voraussicht nach vor neuen Investitionen zurückschrecken würden.
Die Position der privatwirtschaftlich agierenden Verleger würde mehr als geschwächt – zugunsten eines öffentlich finanzierten Angebots, das ohnehin schon existiert (z.B. Canopé mit 1953 Angestellten und einem Budget von 100 Millionen Euro im Jahr) und die Allgemeinheit kräftig zur Kasse bittet (vgl. die kritischen Berichte des französischen Rechnungshofes aus den Jahren 2013 und 2014).
Unter dem Strich wäre der Profit für den Verbraucher rein fiktiv, denn die Mehrkosten bürdete man dem Steuerzahler auf.
Vermutlich zöge ein solches System den Niedergang des gegenwärtig breiten Angebots zugunsten eines vom Staat oder von quasi-monopolistischen ausländischen Konzernen kontrollierten Angebots nach sich, was unweigerlich die schwelende Debatte über Risiken und Gefahren einer „offiziellen Wahrheit“ (in puncto Gendertheorie, Kreationismus, Kolonialismus und ähnlich heiße Eisen) wieder aufflackern ließe. Bis auf Polen und Ungarn hat kein einziger Mitgliedstaat der EU für ein solches System optiert, und am allerwenigsten jene, die am oberen Ende der PISA-Liste rangieren. Nach dem Untergang des privatwirtschaftlich getragenen Lehrangebots hätten die Internetkonzerne gänzlich freies Spiel, ihr Inhalteangebot mit Digitalkopien anzureichern Die Inhalte lassen sie sich auf anderem Wege vergolden: durch den Verkauf von Hardware, Werbung, Abonnements denn wie jedermann weiß, wird einem nirgends etwas geschenkt: „Wenn’s nix kostet, dann bist du das Produkt.“
In einem so hochsensiblen Bereich wie dem Erziehungswesen wäre die Zerstörung ökonomischen und kulturellen Mehrwerts nicht nur dramatisch, sondern höchst problematisch – Stichwort „intellektuelle Gleichschaltung“. Der Nutzen einer solchen Maßnahme wäre gleich Null, zumal zahllose Abkommen mit dem Erziehungsministerium existieren, die den pädagogischen Akteuren dank preisgünstiger Universitäts- und Schullizenzen freien Zugang zu den online-Portalen privater Anbieter gewähren.
Letztlich liefe diese wahrhaft demagogische Ausnahmeregel auf die glatte Missachtung des geistigen Schaffens von Urhebern und Verlegern hinaus. Es wäre denkbar, dass der Staat über kurz oder lang unfähig würde, seine Kulturpolitik noch autonom zu definieren, da die begrenzten Mittel des staatlichen Budgets ihn peu à peu dazu bringen könnten, amerikanischen Akteuren das Feld zu überlassen – die sich dann nicht nur jeglicher Kontrolle, sondern bekanntlich auch jeder Verantwortung für die von ihnen in Umlauf gebrachten Inhalte entziehen.
Das Urheberrecht ist und bleibt ein unverzichtbarer Schutz des geistigen Schaffens innerhalb Europas, zumal im Bildungsbereich, da es einer unkontrollierten, durch nichts und niemand vergüteten Öffnung des europäischen Marktes für die Internetplattformen Riegel vorschiebt.
Fair use
Diese aus den USA importierte Ausnahmeregelung zeigt sehr schön, wes Geistes Kind die Reformideen der Julia Reda und der EU-Kommission sind. Inhalte dürfen unautorisiert verwendet werden, sofern ein legitimes Motiv dahinter steckt (zum Zwecke der Berichterstattung, der künstlerischen Gestaltung, der Parodie ...) Die Gerichte entscheiden von Fall zu Fall über die Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens. Es handelt sich hierbei um ein Konzept, das dem amerikanischen, Richterrecht eigen ist, das indes die gesamte Architektur des europäischen Urheberrechts ins Wanken brächte, welches auf einer limitierten Liste von Schranken beruht, mit durch geltende Rechtsprechung fest umrissenem Anwendungsbereich.
Es geht hier nicht darum zu suggerieren, ein Rechtssystem könne dem anderen überlegen sein, doch die Vorstellung, man müsse auf Biegen und Brechen die Rechtssysteme verschiedener Kontinente, in denen unterschiedliche Traditionen und Kulturen ihre Spuren hinterlassen haben, homogenisieren, ist über alle Maßen absurd und simplifizierend.
Man kann nur rätseln, was ein aus Amerika zwangsimportierter Rechtsbegriff im französischen Urheberrecht zu suchen hat, einem absolut funktionstüchtigen System, das sich fortlaufend an den technologischen Wandel anpasst und die weltweit bedeutendsten und größten Verlagsunternehmen hervorgebracht hat.
Eine derart generelle Infragestellung eines effizienten Regulationssystems scheint keiner erkennbaren Notwendigkeit zu gehorchen – es sei denn, man sucht um jeden Preis nach Lösungen für nicht vorhandene Probleme und möchte neuen Akteuren ein Sprungbrett bieten, die allerdings schon jetzt dominante Marktpositionen besetzen.
Transformative Nutzung
Hierunter ist die partielle Nutzung fremder Inhalte zur Kreation neuer Inhalte gemeint. So dürfte ein Urheber z.B. im Namen der künstlerischen Freiheit und vorausgesetzt, er verbindet keine kommerzielle Absicht damit, eine Figur verwenden, die ein anderer geschaffen hat, ohne zuvor dessen Genehmigung einzuholen.
Eine derartige uneingeschränkte Ausnahmeregelung durchzuwinken hieße, das Urheberpersönlichkeitsrecht – also das ideelle Recht, das ein Urheber an seinem Werk hat – radikal anzufechten.
Territorialität
Man möchte jede technische Möglichkeit unterbinden, die die Lesbarkeit von Dateien von der Geolokalisierung abhängig macht und möchte zusätzlich Inhalte ohne geographische Beschränkung zugänglich machen.
Ein solcher Eingriff in die Territorialität des Urheberrechts hätte zwar kaum Auswirkungen auf den Verlagssektor, da meist die weltweiten Rechte für ein Buch vergeben werden. Doch das Durchwinken einer solchen Regelung würde, um nur ein Beispiel zu nennen, es dem französischen Autor eines Buchs über Blasphemie unmöglich machen, die Verbreitung seines Werks im Ausland zu verhindern – oder sich die Nutzungsrechte für dieses oder jenes Land zu sichern.
Somit stellt letztlich auch diese Regelung einen ungerechtfertigten Angriff auf die Autorenrechte dar.
Autoren wären am Ende die einzigen Erzeuger von Gütern, die es hinnehmen müssten, dass ihre Güter weltweite Verbreitung finden – ohne dass man zuvor ihre Genehmigung einholt.
- Ferner ist eine Verkürzung der Dauer des Urheberrechtsschutzes angedacht: eine Neuerung, die die Rentabilität von Longsellern schmälern würde, dank der man in Nachwuchsautoren investieren könnte oder in schwer verkäufliche, gleichwohl hochrangige Werke. Die Dauer des Urheberschutzes eines Werks stellt somit eine wichtige Einnahmequelle für die Finanzierung zeitgenössischen Schaffens dar, und es ist schwerlich nachvollziehbar, wieso der technologische Wandel an dem in jedem Land sorgsam austarierten Gleichgewicht etwas ändern sollte, an dieser positiven Dynamik, dank der der Gewinn aus älteren Rechten in inhaltliche Vielfalt und neue Titel investiert wird.
- Und schließlich ist eine Ausweitung der Schrankenregelung bezüglich kurzer Zitate und Parodien geplant.
Mit guten Vorsätzen gepflastert: Der Weg ins kulturelle Inferno
Unter dem Strich würden all diese Ausnahmen, die da Hals über Kopf zusammengewürfelt wurden, zu Millionen freier Downloads und zur Verbreitung unzähliger kostenfreier Digitalkopien führen – alles unter dem Vorwand, dass das doch im Interesse der Verbraucher liege, die hier vor den Karren gespannt werden. Wobei die Kreativarbeit künftig dann offenbar vom Heiligen Geist finanziert wird.
Die großzügig offerierte Möglichkeit, Investoren in Inhalte (u.a. Verlage) und Autoren legal auszuplündern, wird die europäische Kulturindustrie erheblich schwächen. Und je schwächer die Akteure der Wissensvermittlung sind, um so knapper wird das verfügbare Wissen sein. Sind aber erst einmal diese Investoren verschwunden, wird das Wissen immer stärker kontrolliert, gesteuert und gelenkt. Und das Ganze geschieht in der irrigen Annahme, dass der rasche und freie Fluss der Information selbstredend unentgeltlich ist.
Die Summe sämtlicher Schrankenregelungen käme definitiv den aggressivsten Anbietern zu Gute, für die die kulturellen Inhalte der EU ein gefundenes Fressen sind. Die Kommission Juncker ist auf dem besten Wege, aus Europa ein Jagdrevier für schon jetzt übermächtige Akteure zu machen. Am Ende wird die Verlagslandschaft ausgeblutet zurückbleiben, werden die Autoren ohne ein Hemd auf dem Leib dastehen.
Wer sich gratis bedient, begeht Diebstahl
Die intendierte Reform hätte unweigerlich zur Folge, dass europäische Urheber und Verleger die amerikanischen Netzgiganten subventionieren, indem sie ihnen gratis Inhalte zuliefern, die diese dann gegen Gebühr an ihre Nutzer weitergäben.
„Es ist nicht viel anders (...) als wenn Supermärkte gratis Bestände gestohlener CDs und DVDs anböten, um Kundschaft in den Laden zu locken.“
Die Produkte geistigen Schaffens würden unentgeltlich privaten Unternehmen überlassen, in der hypothetischen Hoffnung, dass eine neue, „moderne“ Form der Urhebervergütung vom Himmel fiele – in Form einer globalen Lizenz.
Bei diesem Szenario würde der Autor nicht mehr umsatzabhängig vergütet, sondern subventioniert. Weit davon entfernt, innovativ zu sein, wäre das ein bloßer Abklatsch der Vergütungsmodalität europäischer Landwirte, deren Einkünfte in keiner Weise ihren Umsatz widerspiegeln.
Diese Zwangsvergesellschaftung urheberrechtlich geschützter Werke öffnete der Willkür Tür und Tor (wer soll wie viel gemäß welchen Kriterien verdienen?) und verstieße gegen den Geist des Urheberrechts: der Urheber stünde nicht mehr im Mittelpunkt der Bestimmungen zum Schutz seiner Werke. Vergütung wäre nicht länger erfolgsabhängig, sondern würde von einer Wirtschaftsmacht nach unbekannten Kriterien zugeteilt.
Damit nicht genug, böte ein solches Vergütungssystem den Urhebern nicht die geringste Garantie, eine angemessene Vergütung zu erhalten. Das kann man bereits an den jahrelangen gerichtlichen Auseinandersetzung mit den Geräteherstellern über die sogenannte Privatkopieabgabe beobachten. De facto ist jede Form von Alternativfinanzierung nichts als fauler Zauber.
Außerdem führte eine derart starke Konzentration ökonomischer Macht dazu, dass Konzerne sich anmaßen, Werke willkürlich aus dem Vertrieb herauszunehmen, wenn sie nach kulturellen Maßstäben, die eben nicht diejenigen Europas sind, unmoralisch oder für ein breites Publikum ungeeignet erscheinen.
Einige Beispiele:
- Ein Kinderbuch mit dem Titel T’Choupi part en pique-nique wurde von Apple wegen des „pornographischen“ Charakters des Titels zensiert.
- Ein Lucky Luke-Album, das über die Iznéo App hochgeladen werden konnte, wurde von Apple Frankreich zensiert, weil dort Schwarze mit wulstigen Lippen dargestellt waren.
- Desgleichen wurde Iznéos kompletter Comics-Katalog im April 2013 von Apple zensiert, und ebenso ein dänisches Buch über Hippies, in dem Nacktszenen vorkommen.
- Apple weigerte sich, Charlie Hebdo zu hosten, da die Zeitschrift nicht zu den Prinzipien seiner Charta passe. (Ob Die Satanischen Verse seinerzeit wohl Aufnahme in den iBooks Store gefunden hätten?)
- Ebenso hat Apple die France Musique App wegen einer erotischen Sendung zensiert.
- Apple hat Bénédicte Martins Roman La Femme aus dem iBooks Store entfernt, weil auf dem Cover das Schwarzweißfoto einer Nackten zu sehen war.
- Facebook hat das Teilen des Gemäldes Der Ursprung der Welt von Gustave Courbet untersagt.
- Apple, Google und Amazon haben jeder seine eigene Unternehmens-Charta verabschiedet, die ihnen gestattet, gewisse Werke nach eigenem Ermessen nicht in Umlauf zu bringen.
Diese Beispiele, vor denen Julia Reda und die Kommission die Augen verschließen, zeigen, dass kulturelle Vielfalt nur dort existiert, wo sie finanziert werden kann, und dass wahre Freiheit nur in Unabhängigkeit gedeiht.
Die geplante EU-Urheberrechtsreform liefe genau auf das Gegenteil dessen hinaus, als was sie dargestellt wird.
Unter dem Etikett der Modernität erweckte die Kommission paradoxerweise ein Mäzenatensystem zum Leben, wie es vor der Französischen Revolution zu Zeiten des Ancien Régime bestand. Und so gewiss wie das alte Regime seine Gunst nicht an Werke vergeudete, die an seinem Lack kratzten, so gewiss werden die Machthaber von heute keine Bücher verbreiten oder subventionieren, die ihre Macht in Frage stellen.
Das einzig Moderne an Julia Redas Konzept besteht in Wahrheit darin, dass sie die Macht der Monarchie durch die Machtfülle privater Konglomerate ersetzt.
Einst hat das Urheberrecht Autoren und ihren Ideen den Weg in die Freiheit geebnet. Es garantiert dem Verbraucher freien Zugang zum Wissen, ist Grundbedingung für die Vielfalt des Wissens und vor allem auch dafür, dass dieses Wissen überhaupt existiert. Denn ohne das Urheberrecht könnten ein paar Autoren wohl noch überleben, doch ihre Zahl würde dramatisch sinken.
Die wahren Nutznießer dieser von der Kommission Juncker ohne jede Vorabstudie diktierten Reform werden aus den genannten Gründen also nicht die Konsumenten sein, die sich der Illusion eines „alles ist gratis“ hingeben, sondern die Privatunternehmen.
Gegen eine Ära der Leere: Widerstand tut not
Wozu wäre ein gemeinsamer Binnenmarkt mit harmonisierter Gesetzgebung gut, wenn er die europäische Kulturproduktion trocken legt?
Was bringt es, freien Zugang zu bestehenden Werken zu haben, wenn das künftiger Kreativität den Nährboden entzieht?
Was nützt es, alles kostenlos zu bekommen, wenn das die kulturelle Vielfalt kaputt macht, die Meinungsfreiheit unterbindet, Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet, Autoren an die Armutsgrenze treibt und das Kostbarste, was Europa besitzt, zerstört, zum alleinigen Zweck, Privatkonzerne zu bereichern, die auf europäischem Boden weder Steuern zahlen und noch juristisch zu belangen sind?
Was bringt es, fein austarierte Balancen anzutasten, die an die Seele eines ganzen Kontinents rühren, wenn man sich zuvor nicht die Mühe macht, seriöse Studien zu Bedarfsanalysen und Folgeabschätzungen durchzuführen?
Was bringt es, auf der Basis eines dilettantischen, manipulativen Fragebogens an den kulturellen Säulen Europas zu rütteln?
Was nützt der gemeinsame Binnenmarkt, wenn dabei nur die kriminelle Gleichmacherei der Kultur herauskommt?
Was bringt es, demagogisch eine Moderne zu beschwören, wie Jean-Claude Juncker sie verspricht, wenn das Ganze nur zum demokratischen und kulturellen Niedergang führt?
Was bringt es, wenn man jahrhundertelange Traditionen einzelner EU-Länder auslöscht, um die sich ein bestimmtes europäisches Selbstverständnis rankt, wenn man damit doch nur auf heftige Ablehnung stößt – sogar von Seiten der leidenschaftlichsten Befürworter des Gedankens der Europäischen Integration?
Was bringt es, Begriffe wie den „freien Fluss der Information“ oder den „freien Zugang zum Wissen“ zu strapazieren, wenn man in Wahrheit eine dogmatische Vision verfolgt, die einem Fortschrittsbegriff hörig ist, den Lobbyisten und Meinungsmacher ausgeheckt haben?
Wohin führt es, wenn man materiellen Gütern hohen Wert beimisst, geistige Güter jedoch geringschätzt? Ist das nicht der schnellste Weg in die kulturelle Gesichtslosigkeit einer Gesellschaft?
Was hat man davon, wenn man Schmuggel und Diebstahl legalisiert, indem man sie umtauft in „Ausnahmen vom Urheberrecht“?
Kein Mensch möchte als Totengräber der europäischen Kultur in die Geschichte eingehen; Jean-Claude Juncker vermutlich ebenso wenig wie irgendwer sonst.
Das Verschwinden der Autoren ist kein unausweichliches Schicksal. Man muss sich nur auf den Standpunkt stellen, dass die Akteure des Internets sich, wie überall sonst im Geschäftsleben, an die Gesetze zu halten haben statt sie sich im Eigeninteresse zurechtzubiegen.
Welche Beschlüsse getroffen werden, ist keine Frage des technologischen Wandels. Sondern eine Frage der Zivilcourage und des Widerstreits der Ideen. Frankreichs Autoren und Verleger wollen diesen Kampf aufnehmen, der, weit über die Grenzen des persönlichen Interesses hinaus, jeden Bürger betrifft, denn es geht um ein Kernstück unserer Kultur. Sie sollten nicht die einzigen sein, die sich erheben.
Von Richard Malka
Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe © 2015
Anhang
Eine EU-Richtlinie und ein französischer Gesetzentwurf gefährden ein jahrhundertealtes Urheberrecht.
Am 6. Mai diesen Jahres gab die Europäische Kommission ihr Vorhaben bekannt, die „Urheberrechtsrichtlinie“ vom Mai 2001 bis zum Jahresende 2015 zu reformieren – im Rahmen der Mitteilung „Strategie für einen einheitlichen europäischen digitalen Binnenmarkt“. Hinter diesem dynamischen Titel verbirgt sich eine veritable Deregulierung eines europäischen Rechtssystems, dessen Grundstein in der Renaissance gelegt wurde und das sich über die Jahrhunderte konsolidiert hat.
Parallel dazu hat die französische Staatssekretärin für Digitales, Axelle Lemaire, einen Gesetzentwurf angekündigt, in dem Frankreich mit Europa gleichzuziehen gedenkt.
Der politische Zeitplan ist derzeit so offen wie die politische Behandlung dieses Themas, aber die grundlegende Orientierung ist bekannt und stellt eine Bedrohung für die Autoren dar.
Im Herbst könnte von der französischen Regierung eine interministerielle Konsultation auf den Weg gebracht werden.
Jene, die die Macht haben, die Dinge zu ändern:
Andrus Ansip, Vizepräsident der Europäischen Kommission, EU-Kommissar für den digitalen Binnenmarkt
Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission
Axelle Lemaire, französische Staatssekretärin für Digitales beim Minister für Wirtschaft, Industrie und Digitales
Emmanuel Macron, französischer Minister für Wirtschaft, Industrie und Digitales
Günther Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft
Fleur Pellerin, französische Ministerin für Kultur und Kommunikation